Sébastien Simonet

Torschützenglück: Alles nur Kopfsache?

26. Juli 2018

Vor einer guten Woche ist in Russland mit dem Finalspiel die 21. FIFA-Fussball-Weltmeisterschaft (WM) zu Ende gegangen. Nebst Kader, Aufstellung und dieses Jahr zum ersten Mal VAR (Video Assistant Referee) birgt bei solchen Turnieren auch das Thema Elfmeter bzw. Elfmeterschiessen sowohl bei eingefleischt als auch vorübergehend Fussballbegeisterten stets viel Diskussionsstoff. Mit insgesamt 29 gepfiffenen Penaltys wurde der bisherige WM-Rekord von 18 bei weitem übertroffen, bei vier Spielen in der K.O.-Phase musste zudem ein Entscheid per Elfmeterschiessen herbeigeführt werden. Zwar gelingt es einer Mehrheit der Penaltyschützen, ihre Schüsse zu verwandeln (WM 2018: 22 verwandelte gegenüber 7 verschossenen Elfmeter), gleichwohl stehen die Spieler dabei unter grossem Druck. Dieser scheint an einer WM höher zu sein als bei Klubspielen: Treffen in den stärksten europäischen Ligen bei Elfmeterduellen 76-80% der Schützen, sind es bei Weltmeisterschaften „nur“ 70%. Die Auswahl der richtigen Spieler wird damit zur sprichwörtlich (!) matchentscheidenden Aufgabe. 

Eine besondere Herausforderung stellte sie für den englischen Nationaltrainer Gareth Southgate dar. Das englische Team ging bei den letzten sieben Elfmeterduellen an einer Welt- oder Europameisterschaft in gerademal einem als Sieger vom Platz. Deshalb entschied sich Southgate – selbst gescheiterter Penaltyschütze (EM-Halbfinale 1996) – einen neuen Weg einzuschlagen. Mithilfe psychometrischer Tests liess er die psychische Robustheit – in der Persönlichkeitspsychologie spricht man auch von „emotionaler Stabilität“ – des gesamten Kaders ermitteln und wählte basierend auf den Ergebnissen einerseits die Schützen aus und nutzte sie andererseits, um verschiedene mögliche Einsatz-Reihenfolgen festzulegen. Jeder Spieler erhielt zudem ein spezifisch auf ihn und seine Bedürfnisse zugeschnittenes Mentaltraining. Das Ergebnis ist längst bekannt: Zum Weltmeistertitel hat es nicht gereicht. Das englische Nationalteam hat aber den „Penalty-Fluch“ überwunden und ist nicht – wie bei den vorangegangen sechs Malen – aufgrund eines verlorenen Elfmeterduells ausgeschieden.

Natürlich wünscht sich jede Mannschaft, das Spiel in der regulären Spielzeit für sich zu entscheiden. Um die hierfür nötigen Tore zu erzielen bzw. Gegentore zu verhindern, gilt es, im eigenen Team ein gutes Zusammenzuspiel aufzubauen und genau das dem gegnerischen Team schwer zu machen. Hierbei spielen Spiegelneuronen eine wichtige Rolle. Sie sind es nämlich, die uns erlauben, das Verhalten von Menschen in unserem Umfeld zu verstehen, im besten Fall sogar zu antizipieren. Diese sogenannte „Fähigkeit zur Perspektivenübernahme“ ermöglicht es einem Fussballspieler, aufgrund des laufenden Spielzugs zu erkennen, wohin er sich idealerweise bewegen muss, um beispielsweise zur richtigen Zeit am richtigen Ort einem Team-kollegen als Anspielstation zu dienen, beim Zuspiel der Gegner erfolgreich zu intervenieren oder einem potenziellen Foul auszuweichen.

Obwohl das menschliche Gehirn von Geburt an mit Spiegelneuronen ausgestattet ist, entwickelt sich die Fähigkeit zu spiegeln, nicht von alleine, sondern erst durch soziale Interaktion. Durch Erfahrungen wird das Funktionieren der Spiegelneuronen gesteuert, durch Training kann es entsprechend verstärkt werden. Spiegelneuronen sind für uns unentbehrlich, da sie es uns erleichtern, uns im Alltag richtig zu verhalten, ohne darüber viel nachdenken zu müssen (z.B. sich im morgendlichen Pendler-strom zu bewegen, ohne ständig mit anderen zusammenzustossen). Auch das Empfinden und Zeigen von Empathie ist nur mithilfe von Spiegelneuronen möglich. Ob die französischen Nationalspieler über besonders gut funktionierende Spiegelneuronen verfügen, wäre also zu prüfen… Mehr Informationen zu den erwähnten Themen finden Sie hier: 

Nicht nur Profi-Fussballspieler, sondern die meisten Menschen interagieren bei ihrer Arbeit in irgendeiner Form mit anderen Menschen und sehen sich bisweilen mit Drucksituationen konfrontiert. Auch hier spielen die emotionale Stabilität und die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme eine entscheidende Rolle. Sei es bezüglich der Wahrnehmung, ab wann bzw. unter welchen Bedingungen eine Situation überhaupt als belastend empfunden und wie darauf reagiert wird. Oder sei es, dass im Umgang mit schwierigen Kunden/innen diplomatisches Geschick, im Führungsalltag Wertschätzung und im Team Unterstützung gezeigt wird.

Sébastien Simonet

Lic. Phil.
Arbeitspsychologe