Irène Broillet

Coaching in Online-Zeiten

26. März 2021

Management und Career-Coaching in Zeiten von Corona: stay connected (with yourself)

Nebst der rasanten Digitalisierung der Arbeitswelt und der vierten industriellen Revolution beeinflusst nun zusätzlich das Phänomen COVID-19 den Arbeitsmarkt. Viele Erwerbstätige sind gezwungen, sich Gedanken über ihre weitere Karriere zu machen: Wo und wie kann ich mein Potenzial und meine Erfahrungen so einbringen, dass ich damit einerseits genügend Geld verdiene, andererseits aber auch meine Werte leben und Freude an der Arbeit haben kann? Die Spanne zwischen Resignation und hyperaktiver Weiterentwicklung ist gross, und die Suche nach eigenen Antworten und Anpassungen ist herausfordernd.

Online-Coaching scheint für solche Fragestellungen eine geeignete Methode zu sein. Sich mit einer neutralen Fachperson über seine Bedürfnisse, Werte, Kompetenzen und Rollenerwartungen bezüglich Arbeit und Karriere online auszutauschen, kann in wenigen Sitzungen mehr Klarheit bezüglich Zielen schaffen sowie Motivation und Handlungskompetenzen für die weitere berufliche Entwicklung fördern. 

Nach rund zwanzig Jahren Erfahrung im Coachen von Führungs- und Fachkräften in einem Face-to-Face-Setting war ich der Online-Beratung gegenüber zunächst kritisch eingestellt. Die Erfahrungen während der Pandemie haben mir nun jedoch erlaubt, meine Meinung zu ändern: Online-Coaching ist für sehr viele Fragen des Coachings sinnvoll, sofern die technischen Bedingungen (Datensicherheit, Vertraulichkeit, Transparenz bezüglich Angeboten, Kosten und Zeitbedarf) sowie die intellektuellen und sprachlichen Voraussetzungen (es braucht eine gewisse Fähigkeit zur Verbalisierung von Selbstwahrnehmungen) erfüllt sind. 

 

Bei sich sein

Online-Coaching ermöglicht die Beratung zu Hause oder an einem anderen Ort – sogar im Wald, wenn es gewünscht wird. Die Coachees werden also nicht in ein Büro zitiert, das sie nicht kennen, und die Anfahrt, die Parkplatzsuche und andere Stressoren fallen weg. Diese banale Änderung ist für das Coaching nicht banal: Die Coachees bleiben selbstbestimmt und wählen den für sie passenden Ort. Auch können sie dank der heutigen Technik entscheiden, wie viel sie von sich und ihrer gewählten Umgebung am Bildschirm preisgeben. All dies unterstützt, dass sich die Coachees wohlfühlen – was für effizientes Arbeiten im Coaching wichtig, wenn nicht gar entscheidend ist. Es ist Aufgabe des Coaches, bei Bedarf auf diese Freiheiten hinzuweisen. 

Auch für den Coach bieten sich zahlreiche Vorteile: Das Setting kann den eigenen Bedürfnissen und denen der Coachees angepasst werden, die Kosten (z.B. für die Miete eines Büros) sinken und der Tätigkeitsradius ist nicht mehr geografisch bestimmt und lässt sich folglich enorm ausweiten. 

Da auf dem Bildschirmausschnitt nur der Kopf zu sehen ist, ergeben sich weitere Freiheiten; so kann man zum Beispiel unbequeme Schuhe ausziehen. Was trivial klingt, ist eine Form von Self Care, also der Möglichkeit, etwas für das eigene Wohlbefinden zu tun. Dies erlaubt es beiden Gesprächspartnern, Coach und Coachee, mit sich selbst verbunden zu sein und erhöht die Kongruenz zwischen Gedanken, Gefühlen und Empfindungen. Mit anderen Worten ermöglicht die Gestaltung eines ‘safe space’ eine erhöhte Präsenz im Hier und Jetzt. Ich wage zu behaupten, dass das eine Grundvoraussetzung für Kreativität und das Explorieren neuer Möglichkeiten ist – also ein zentrales Element jedes Coachings.

Studien zu den Themen Nähe und Distanz im Kontext von psychotherapeutischen Gesprächen haben gezeigt, dass der Therapeut oder die Therapeutin im Idealfall höchstens 50% der Aufmerksamkeit seinem Gegenüber widmet; die anderen 50% sind auf das eigene momentane Befinden gerichtet. Diese Präsenz des Coaches führt dazu, dass sich oftmals auch der oder die KlientIn erlaubt, bewusster in sich hineinzuhorchen. Wie viel dabei unbewusste Übertragung ist oder Effekte der Spiegelneuronen mitspielen, kann hier nicht abschliessend beantwortet werden. Auf jeden Fall kann dieses Phänomen auch beim Online-Coaching eine wichtige Rolle spielen.

 

Erhöhte Anforderungen an die Kommunikationskompetenz

Es ist immer die Aufgabe des Coaches, sich sorgfältig auf sein Gegenüber vorzubereiten und eine lebendige Beziehung zum Coachee aufzubauen. Wird die Beratung online durchgeführt, sind die kommunikativen Fähigkeiten des Coaches jedoch noch mehr gefordert als sonst. Deshalb ist der Einstieg über das Thema Wohlbefinden besonders wichtig. Auch am Bildschirm ist es möglich, zusammen zu atmen und eine Entspannungsübung oder Klopftechnik anzuwenden. Humor und Lachen (natürlich immer in wertschätzender Weise) sind ebenfalls nicht auf die analoge Welt beschränkt. Schüchterne Personen kann der Coach in solchen Moment auffordern, die Kamera für einen Moment auszuschalten – so können Hemmschwellen oder Schamgefühle abgebaut werden.

Was fehlt, ist ganz klar der physische Kontakt. Der Austausch ist weniger sinnlich, da energetische, geruchliche und andere nonverbale Elemente wegfallen. Auch der visuelle Kontakt ist eingeschränkt: Die Bildqualität kann schlecht sein, und der fehlende direkte Augenkontakt muss kompensiert werden. Es ist daher zentral, dass der Coach bei einer Online-Beratung häufiger danach fragt, wie sich der Coachee fühlt und die Situation erlebt. Um ein emotionales und körperliches Feedback einzuholen, reicht schon die Frage «Wie fühlt sich das jetzt an?». Diese regelmässige Evaluation ist entscheidend für den Erfolg beim Online-Coaching. 

Die sprachliche Kommunikation gewinnt in diesem Setting also zusätzlich an Bedeutung, da die Stimme zum verbindenden Element zwischen Coach und Coachee wird. Zahlreiche Studien haben belegt, dass der Austausch bei Telefongesprächen sehr effizient ist, auch wenn die Kommunikation in diesem Fall ausschliesslich verbal erfolgt. Es konnte gezeigt werden, dass sich an der Stimme differenziert erkennen lässt, wie sich das Gegenüber fühlt. 

Online-Coaching mag also höhere Ansprüche an die Kommunikationskompetenz des Coaches stellen, doch im Idealfall kann dieses ‘Weniger’ paradoxerweise zu einem ‘Mehr’ an Klarheit führen: die Gesprächsteilnehmenden konzentrieren sich aufs Wesentliche und sind gezwungen, ihre Gefühle zu verbalisieren.

 

Auflösen von Barrieren?

Normalerweise versuchen Menschen auf Distanz zu gehen, wenn der Raum kleiner wird, den sie mit anderen teilen. Sind sie zum Beispiel in einem Lift mit anderen zusammengepfercht, wenden sie den Blick ab. Argyle & Dead (1965) nennen dies das ‘Intimitätsgleichgewicht’. Hier zeigt sich ein Vorteil der Distanz bei einer Online-Beratung: Sie kann die Offenheit erhöhen und das vermehrte Verbalisieren von Gefühlen fördern. 

Diese Wirkung hat auch der sogenannte ‘Talking to a stranger’-Effekt. Wie wir im Zug manchmal einer komplett fremden Person unser Leben erzählen, so erlaubt ein Online-Coaching es den Ratsuchenden, sich zu öffnen und ihre Gedanken und Gefühle zu explorieren, vielleicht sogar häufiger und intimer als in einem Face-to-Face-Setting. Zahlreiche Studien belegen, dass dieser Effekt bei Online-Beratungen auftritt. Voraussetzung ist natürlich, dass zwischen Coachee und Coach eine Vertrauensbasis besteht und ein ‘safe space’ geschaffen wurde. Weiter muss der Coach aktiver Zuhörer bleiben und darf sich nicht ablenken lassen, was natürlich gerade am Computer leicht möglich ist.

 

Kreatives Selbstmanagement

Ein digitales Setting hat weitere Vorteile. In einem geteilten Dokument oder auf einer gemeinsamen Arbeitsfläche können Ziele oder andere Punkte notiert werden, die bei einem Coaching wichtig sind. Das erhöht die Transparenz und die Kollaboration: Man entscheidet gemeinsam, wer was und wie aufschreibt. Damit wird – wie schon zuvor – die Selbstbestimmung des Coachees gestärkt. 

Praktisch ist auch, dass Dokumente wie ein Lebenslauf oder ein Bewerbungsschreiben rasch geteilt und gemeinsam analysiert und bearbeitet werden können. Online-Coaching erfordert also auch gewisse Schreibkompetenzen.

Auch auf beliebte Methoden wie die Arbeit mit Bildern, Figuren oder System-Aufstellungen muss dank online verfügbaren Tools nicht verzichtet werden. Mich hat die Plattform ‘CAI-World’ von Prof. Dr. Elke Berninger-Schäfer am meisten überzeugt: Sie bietet nicht nur alle Instrumente, die ich sonst im Coaching-Prozess in der Einzel- oder Gruppenarbeit verwendet habe, sondern zusätzliche Möglichkeiten mit Avataren, die mich begeistert haben. Beispielsweise können Coachees hier eine Darstellung, die ihr Team mithilfe von Symbolen zeigt, verändern, indem sie die Figuren den Platz wechseln lassen oder die Symbole grösser oder kleiner machen. Diese spielerischen Elemente erlauben es den Klienten, sich von ihren Problemen zu distanzieren und mit Kreativität und Leichtigkeit Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Analog zu einem klassischen Setting unterstützt das System den Transfer ins Heimsystem und die Umsetzung im Alltag mit weiterführenden Aufgaben. Ausserdem können die Coachees die Notizen und Bilder des Online-Coachings jederzeit wieder anschauen und weiterbearbeiten.

 

Studien belegen Wirksamkeit

Eine zurzeit noch unveröffentlichte Studie des psychologischen Instituts der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften (ZHAW) zur Wirkung von Online-Coaching bestätigt mein eigenes Erleben während der Pandemie: in einem Vergleich zwischen klassischem Setting und Online-Coaching fallen die Werte bezüglich Befindlichkeit, Zielklarheit, Vertrauen in Zukunftsperspektiven und Motivation zur Umsetzung von Lösungen der Coachees mindestens gleich hoch oder höher aus.

Wenn man als Coach also nebst den technischen Coaching-Kompetenzen fähig ist, das eigene Erleben und das des Gegenübers gezielt wahrzunehmen und auch regelmässig zu kommunizieren, um so mit sich und dem Coachee verbunden zu sein, wird Online-Coaching zu einer effizienten und lustvollen Form von Coaching. 

 

Ausblick

Online-Coaching wird auch nach dem Ende der Pandemie nicht mehr wegzudenken sein. Professor Berninger-Schäfer betont: «Verbände und wissenschaftliche Einrichtungen sind daher aufgefordert, diese Entwicklung mit der Definition von Qualitätsstandards, fundierter Forschungsarbeit und Qualitätssicherungen zu unterstützen.»  

Durch Online-Coaching werden neue Coaching-Formate entstehen: kürzere Einheiten, neue Möglichkeiten der Transferunterstützung, asynchrones Vorgehen, Internationalisierung. Coaches sind aufgefordert, sich in diesen Bereichen gezielt weiterzubilden. 

 

Online-Ressourcen

cai-world.com (Plattform von Prof. Dr. Berninger-Schäfer)

 

Literaturhinweise

Berninger-Schäfer, E. (2018). Online-Coaching. Verlag Springer. 

Berninger-Schäfer, E. (2020). Online-Coaching – Fakten und Mythen: Coaching-Magazin Online.

Fischer, M. & Kaul, E. (2016). IBP Lehrbuch Einführung in die körperorientierte Psychotherapie. Bern: Hogrefe. 

Künzli, H. & Lohmann, A.C. (2019). Online Coaching mit der CAI-World, ein Projekt am Departement Angewandte Psychologie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften ZHAW.

Künzli, H. (2013). Wirksamkeitsforschung im Führungskräfte-Coaching. In E. Lippmann (Hrsg.), Coaching, Angewandte Psychologie für die Beratungspraxis (S.370-385). Berlin: Springer.

Ribbers, A. & Waringa, A. (2015). E-Coaching. Theory and practice for a new online approach to coaching. London: Routledge.

Wegener, R. et al. (2020). Coaching im digitalen Wandel. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.

Irène Broillet

Arbeits- und Organisationspsychologin
Fachpsychogin für Coaching-Psychologie FSP und Laufbahnberaterin BBT